Montag, 5. April 2010

Spiel des Paria

Die letzten Tage meines Lebens verbringe ich sitzend. Ich befinde mich in meinem Wohnzimmer. Meine hageren Arme liegen schwer auf den zerkratzt hölzernen Lehnen des Sessels. Ebenso modrig und säuerlich wie die durchgesessenen Polster des Stuhls riecht auch meine Seele, die ich entschied im Brandwein zu ertränken, nachdem man vor einigen Jahren meine bezahlte Suspendierung verkündet hatte. Ein halbes Leben habe ich am Telefon verbracht. Der Verkauf von Versicherungen war ungewollt zu meiner Lebensaufgabe geworden. Ziel meiner Tätigkeit war es, einer verängstigten Gesellschaft die Angst vor dem plötzlichen Unglück zu nehmen, indem ich diese davon überzeugen würde, einen Vertrag einzugehen, welcher die Gewährung von Versicherungsschutz gegen Entgelt mit sich brächte. Geduldig und mit angenehm klingender Stimme warb ich um die Aufmerksamkeit der offensichtlich Hilflosen, der, doch eigentlich orientierungslos, nach Sicherheit suchenden, im dichten Nebel des Bürokratismus wandelnden Wesen.
Eine innere Ignoranz, vielmehr ein forciertes Verdrängen der eigenen Ängste und besonders ein völlig stressresistentes, durch konstante positive Ausstrahlung übermaltes Wesen war hier vonnöten. Erst durch ein Vergessen der persönlichen, immer gegengewärtigen Furcht vor Leben und einer unsicheren Wahrheit, durch die partielle Degradierung meiner Person, meiner ungeteilten Empfindungen, wurde das Gefängnis, mein grauer Kasten, mein Telefon-Computer-Terminal, zu meiner Bühne. Die Bühne, als Ort des Schauspiels, als Lebensraum eines gefühlsstarren, zur Emotionsmonotonie verbannten, modernen Telefonisten.
Ich fing an zu schreiben, eben weil ich die eigene Lust der bezahlten Selbstzerstörung, angetrieben durch meinen Beruf, die Destruktion meiner individuellen Persönlichkeit, als meinen künstlerischen Antrieb zu akzeptieren lernte. Auf leeren, weißen Seiten manifestierte sich das Moloch Angst, die Furcht vor der mir im Beruf zugetragenen, gesellschaftlichen Ignoranz, welche meine Charaktergestalt vergessen zu machen drohte. Ich schrieb nachts. Schrieb von dem Angstschweiß des unsicheren Versichernden, den niemand wahrnahm, welcher aber, sobald ich das Büro verlassen hatte, aus jeder Pore meines müden Körpers troff. Von den Tränen, die mein schmerzverzerrtes Gesicht, wegen meines hektischen Schreianfalls, meiner auf teure, materielle Gegenstände hastig, pathologisch einschlagenden Fäuste, meiner unkontrolliert zuckenden Extremitäten und meines zitternden Unterkiefers, großzügig befeuchteten und dann tropfend verließen. Als in der Zelle des Callcenters und in meiner Reihenhauswohnung verweilendes, isoliertes, menschliches Experiment schrieb ich wütende Texte, umschrieb die Schimäre, mein Leben, ein Trugbild.
Jetzt bin ich alt. Ein Telefon besitze ich nicht. Die Oberfächlichkeit meines Berufs hat mich müde, sogar recht sprachlos werden lassen. Ich rede selten, doch inhaltlich nicht weniger als damals. Wie die unscheinbare Pantomime einer vergangenen Persönlichkeit ahme ich wortlos die frisch jugendliche Gestik und Mimik, die Symbolik meiner einst grenzenlosen Vitalität nach. Geschrieben habe ich, um die beinahe verlorene Tiefgründigkeit meiner Existenz zu konservieren, vielleicht um mir ein wenig infantile Reinheit zu bewahren. Geschrieben habe ich, um den Kampf des durch den Kapitalismus versklavten Individuums auf dem Papier zu gewinnen, um meine Umwelt und meine daraus resultierende Verzweiflung auf meine Art und Weise zu interpretieren, um, durch diese schriftliche Interpretation, Herr über das Erlebte zu werden. Geschrieben habe ich - und habe es verloren, das unlautere Spiel.
Im Stupor verweilend, schaue ich durch blinde Fensterscheiben. In ihnen spiegelt sich mein erschreckendes, vom Alkohol gezeichnetes Portrait. Mein Gesicht liegt in Falten. Die veraltete Hautstruktur präsentiert mein Inneres ganz plötzlich am deutlichsten. Die ewigen Winter, die geistige Kälte meines Berufs, die subventionierte Routine haben die zarte Kinderhaut rau und schuppig erscheinen lassen. Nicht nur mein Gesicht, meinen gesamten Körper überspannt das trockene Schuppengebilde, wie eine Projektionsfläche für all die unverarbeiteten beziehungsweise unbeantworteten Eindrücke und Fragen meines Daseins, die ich nicht gekonnt war zu begreifen, oder die ich innerhalb meiner eklektizistischen, jedoch dilettantischen Lyrik nicht vermochte allgemein verständlich zu veranschaulichen. Sie verstecken sich unter der Maske, die sterblichen Überreste meiner vergangenen, primitiv jugendlichen Metapherwelt, welche sich letztendlich gedrängt sah, leise in den Abgründen der endlos zehrenden, vagabundierenden Suche nach finanziellem Glück und schützendem Wohlstand zu versinken. Die tosenden Feuer meiner Phantasie und die darin einst glühenden Bildermassen waren in unfreiwillig übernommenen, gesellschaftlichen und besonders beruflichen Perspektiven und rationalen, den jungen Menschen schamlos affizierenden Konzepten des Denkes, erstickt und ließen mich jetzt so abgeklärt, mein Wesen so fad und geistlos erscheinen.
Ein letztes Mal träume ich von heiliger Kindheit. Ich erinnere mich der sinnlichen Augenblicke, dem absoluten Versunkensein in die Gegenwart des fantasievollen Spiels.
Damals im Sommer roch mein kleines Firmament nach den blühenden Feldern, abseits der Siedlungen und Straßen, abseits des zeitlosen Ernst jeglicher metaphysischen oder gesellschaftlichen Wahrheit. Zarte, spitze, nach Regen durstende Gräser. Man piekst sich daran, wenn man sich flach auf den Bauch legt und den kleinen Tierchen beim Krabbeln zu sieht. Die Sonne brennt heiß und an die weiße, zart errötete Kinderhaut schmiegt sich aufdringlich die matte Sommerschwüle. Sie liegt zwischen den Grashälmen diese dumpfe Hitze und intensiviert den unschuldigen Geruch der florierenden Wiese.
Als Kind bejahte ich das Leben, weil ich mein Spiel war. Ich wurde nicht gezwungen zu sein, sondern war selbst gewollt einen Sinn für meine Existenz zu schaffen, ohne mich dabei auf die Autorität einer Moral beziehen zu müssen oder gar zu können. Mein junges Leben war gottlos, weil ich Schöpfer meiner Identität war. Ich erschuf den Augenblick, genoss ihn und wuchs durch ihn, bis dass seine Flüchtigkeit mich überfiel.
Noch einmal Nihilist sein, denke ich. Dann schließe ich meine grauen Augen, beende mein Atmen und zerstöre die Panik, den Sinn des Lebens. Gedanklich öffnet sich mir ein leerer Raum, indem nun endlich Neues möglich ist.

Es ist so still geworden..

.., seitdem der heilige Vater sein “aufrichtiges Bedauern“ gegenüber der Opfer der Pädophilie ausgesprochen hat. Hin und Wieder eine Entschuldigung, die nur den Medien etwas bedeutet, weil sie komplementiert, was der Täter eigentlich denkt, nämlich dass das Kind es doch ebenfalls gewollt habe. Die leeren Versprechen paraphrasieren doch eigentlich nur, was der empathielose Narzisst, der sich mit Zärtlichkeit Tarnende, der tatsächlich medizinisch Gesunde (die sexuelle Störung ist keine Krankheit, denn der Begriff dieser würde die Möglichkeit der Heilung suggerieren) ohnehin nicht halten kann.
Nur ab und an ein Kinderchor. Begleitet am Flügel oder dirigiert von einem älteren Herren. Diszipliniert und mit stetiger Contenance trällern die kleinen Männer, wie die Spatzen auf der Domturmspitze, bis ihre engelsgleichen Stimmen in höhsten Höhen die Gerechten in Abrahams Schoß und jene Motive der üppig illustrierenden Kirchenfenster des christliche Harems erzittern lassen. Berührt und tief bewegt lauscht man den freiwillig vorgetragenen Melodien.
Man will ihn sich nicht ausmalen den Kinderverführer. Wie er die kleinen, nach einem Vorbild der Männlichkeit sich sehnenden und unverdorbenen Jünglinge ihrer Träume beraubt, sie mit täuschend echter, väterlicher Zuneigung verwirrt, ihnen Geschenke macht und das Abenteuer verspricht, um ihnen schließlich sein Begehren zu offenbaren, welches er dann auslebt, als Mitglied einer Institution, deren Mauern die Verwirrung der kindlichen Seele konserviert, deren Stille und Schweigen nicht gestört wird, da die dicht errichteten moralischen Barrikaden den Schall der Sünde schlucken.

Trümmerfrau

frau

In einer Küche, zwei Personen. Die Dame, sie ist alt. Der Herr, ein Kind und jungenhaft und deshalb ungestüm, vereinzelt unsensibel, wenn er spricht. Ein wenig zornig und frustriert mustert er das kleine Häufchen Zukunftsglaube. Die Stimme streng und ungeduldig, er will nicht ständig Ohrenzeuge ihrer Seufzer, ihres in den tristen Zimmerwänden schallenden Lamento sein. Der Raum ist voll, bestimmt von diesen Tönen. Es dirigiert zur dieser Stunde die vollkommene Gleichgültigkeit, welche sich der bereits erlebten, einer längst gelebten Zeit und Freude dieser Dame seit Jahren jetzt schon anvertraut. Die Krankheit hat sie abgeklärt und weil sie jetzt so krankhaft weise ist, erklärt sie ihm, was sie zwar glaubt zu wissen, doch eigentlich auch selbst nicht weiß. Weshalb sich ihre Worte dann im Rhytmus eines ziemlich teilnahmslosen, schwerfälligen Stumpfsinns, im feuchten Phlegma suhlen, bis dass der zähe Schleim ...

“Ich weiß nicht. Diese Pillen. Nimmt man die Pillen, dann geht es besser. Doch ging es vorher auch. Was war denn nun zuerst. Schmerz oder Pille. Das denk’ ich dann manchmal.”

Das hat sie gestern schon gesagt. Auch hat sie es vor Tagen schon im Selbstgespräch erwähnt, um dann in seiner Gegenwart den Selbstbeweis schonwieder zu betonen, weil dieser ganz bewusst dem Grübeln einen kümmerlichen Nachdruck zu verleihen sich bemüht. Dass die Alten sich ihres noch lebendigen Geistes zu versichern versuchen, indem sie die bei besonders wachem Geiste erdachten Phrasen von Zeit zu zeit ganz automatisch deklamieren, sowie der enttäuschte Christ, der sein Vaterunser abspult, weil sich in den unmodernen Worten und der Tradition die Klarheit finden lässt, ist nur dann bedauernswert, der Gedanke nur dann so miserabel, wenn man bedenkt, dass der Tod des Menschen als entgültigste traditionelle Konsequenz so unverblumt Gewissheit und Tatsächlichkeit personifiziert, während die Selben doch Grundlage sind, nach der die menschlichen Gefühle verlangen.
“Nein. Du bist jung. Du verstehst das nich’. Irgendwann kommt so’ne Zeit, dann geht es auch nich’mehr. Und es tut doch auch alles so weh. Es tut weh, wenn ich sitz’ oder stehe. Immer tut’s weh. Aber jammern soll man nicht. Es hilft nich’, das Jammern. Ach, was ich immer jammer und doch will der Herrgott es nich’ hören.”
Es kam so ‘ne Zeit und plötzlich ging es nicht mehr.
Vielleicht ging es schon nicht mehr, als die alte Dame, damals noch ein Kind, mit blonden, geflochtenen Zöpfen am Ufer der Wupper durch die Trümmer der zerstörten Fachwerkhäuser lief. Sie hatte verstanden, als der alliierte Kontrollrat sie verpflichtete Steine zu schleppen, als man ihr und den Trümmerfrauen sagte, sie mögen den Schutt und die Ruinen in primitive Unterkünfte verwandeln, in deren winzigen Räume sich dann die vaterlosen Familien vor Wind und Wetter beschützt fanden. Sie hatte verstanden, als ihr erster Ehemann sie im Alkoholfieber ohrfeigte und sie dann mit den Kinder alleine ließ. Sie hatte begriffen, dass jetzt so ‘ne Zeit kam.
Der Junge verstand das jetzt auch.

Er fährt jetzt in die Stadt. Vielleicht soll er ihr etwas mitbringen. Etwas gutes, etwas das ihr schmeckt. Cola vielleicht. Das trinkt sie doch so gerne.
“Das ist nett. Cola ist gut. Aber kalt muss sie sein, hörst du. Es wäre schön, wenn sie kalt wär’.”

Mob Mentality

I don’t feel it. I’m not part of a collective. I don’t feel the euphoria associated with being part of a mob. I don’t surrender unwillingly to its wills. I cannot get lost in the throws of jubilation. This I think is why I am not a man of God, because God is really just the feeling that a group of people give when they stand together united by a set of values and principles. God is the chemical reaction to the stimulus of group think. My inability to feel this particular emotion is why I don’t care about national pride, or the Lord’s Prayer, or the national anthem. I intellectually understand that I exist in a web of interdependence with my fellow man, but I don’t truly understand it. I don’t comprehend it on an emotional level.

Stumm sein

Schreiben, weil sich das geschriebene Wort besser anfühlt, als die Erfahrung, die es beschreibt.

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