Spiel des Paria
Die letzten Tage meines Lebens verbringe ich sitzend. Ich befinde mich in meinem Wohnzimmer. Meine hageren Arme liegen schwer auf den zerkratzt hölzernen Lehnen des Sessels. Ebenso modrig und säuerlich wie die durchgesessenen Polster des Stuhls riecht auch meine Seele, die ich entschied im Brandwein zu ertränken, nachdem man vor einigen Jahren meine bezahlte Suspendierung verkündet hatte. Ein halbes Leben habe ich am Telefon verbracht. Der Verkauf von Versicherungen war ungewollt zu meiner Lebensaufgabe geworden. Ziel meiner Tätigkeit war es, einer verängstigten Gesellschaft die Angst vor dem plötzlichen Unglück zu nehmen, indem ich diese davon überzeugen würde, einen Vertrag einzugehen, welcher die Gewährung von Versicherungsschutz gegen Entgelt mit sich brächte. Geduldig und mit angenehm klingender Stimme warb ich um die Aufmerksamkeit der offensichtlich Hilflosen, der, doch eigentlich orientierungslos, nach Sicherheit suchenden, im dichten Nebel des Bürokratismus wandelnden Wesen.
Eine innere Ignoranz, vielmehr ein forciertes Verdrängen der eigenen Ängste und besonders ein völlig stressresistentes, durch konstante positive Ausstrahlung übermaltes Wesen war hier vonnöten. Erst durch ein Vergessen der persönlichen, immer gegengewärtigen Furcht vor Leben und einer unsicheren Wahrheit, durch die partielle Degradierung meiner Person, meiner ungeteilten Empfindungen, wurde das Gefängnis, mein grauer Kasten, mein Telefon-Computer-Terminal, zu meiner Bühne. Die Bühne, als Ort des Schauspiels, als Lebensraum eines gefühlsstarren, zur Emotionsmonotonie verbannten, modernen Telefonisten.
Ich fing an zu schreiben, eben weil ich die eigene Lust der bezahlten Selbstzerstörung, angetrieben durch meinen Beruf, die Destruktion meiner individuellen Persönlichkeit, als meinen künstlerischen Antrieb zu akzeptieren lernte. Auf leeren, weißen Seiten manifestierte sich das Moloch Angst, die Furcht vor der mir im Beruf zugetragenen, gesellschaftlichen Ignoranz, welche meine Charaktergestalt vergessen zu machen drohte. Ich schrieb nachts. Schrieb von dem Angstschweiß des unsicheren Versichernden, den niemand wahrnahm, welcher aber, sobald ich das Büro verlassen hatte, aus jeder Pore meines müden Körpers troff. Von den Tränen, die mein schmerzverzerrtes Gesicht, wegen meines hektischen Schreianfalls, meiner auf teure, materielle Gegenstände hastig, pathologisch einschlagenden Fäuste, meiner unkontrolliert zuckenden Extremitäten und meines zitternden Unterkiefers, großzügig befeuchteten und dann tropfend verließen. Als in der Zelle des Callcenters und in meiner Reihenhauswohnung verweilendes, isoliertes, menschliches Experiment schrieb ich wütende Texte, umschrieb die Schimäre, mein Leben, ein Trugbild.
Jetzt bin ich alt. Ein Telefon besitze ich nicht. Die Oberfächlichkeit meines Berufs hat mich müde, sogar recht sprachlos werden lassen. Ich rede selten, doch inhaltlich nicht weniger als damals. Wie die unscheinbare Pantomime einer vergangenen Persönlichkeit ahme ich wortlos die frisch jugendliche Gestik und Mimik, die Symbolik meiner einst grenzenlosen Vitalität nach. Geschrieben habe ich, um die beinahe verlorene Tiefgründigkeit meiner Existenz zu konservieren, vielleicht um mir ein wenig infantile Reinheit zu bewahren. Geschrieben habe ich, um den Kampf des durch den Kapitalismus versklavten Individuums auf dem Papier zu gewinnen, um meine Umwelt und meine daraus resultierende Verzweiflung auf meine Art und Weise zu interpretieren, um, durch diese schriftliche Interpretation, Herr über das Erlebte zu werden. Geschrieben habe ich - und habe es verloren, das unlautere Spiel.
Im Stupor verweilend, schaue ich durch blinde Fensterscheiben. In ihnen spiegelt sich mein erschreckendes, vom Alkohol gezeichnetes Portrait. Mein Gesicht liegt in Falten. Die veraltete Hautstruktur präsentiert mein Inneres ganz plötzlich am deutlichsten. Die ewigen Winter, die geistige Kälte meines Berufs, die subventionierte Routine haben die zarte Kinderhaut rau und schuppig erscheinen lassen. Nicht nur mein Gesicht, meinen gesamten Körper überspannt das trockene Schuppengebilde, wie eine Projektionsfläche für all die unverarbeiteten beziehungsweise unbeantworteten Eindrücke und Fragen meines Daseins, die ich nicht gekonnt war zu begreifen, oder die ich innerhalb meiner eklektizistischen, jedoch dilettantischen Lyrik nicht vermochte allgemein verständlich zu veranschaulichen. Sie verstecken sich unter der Maske, die sterblichen Überreste meiner vergangenen, primitiv jugendlichen Metapherwelt, welche sich letztendlich gedrängt sah, leise in den Abgründen der endlos zehrenden, vagabundierenden Suche nach finanziellem Glück und schützendem Wohlstand zu versinken. Die tosenden Feuer meiner Phantasie und die darin einst glühenden Bildermassen waren in unfreiwillig übernommenen, gesellschaftlichen und besonders beruflichen Perspektiven und rationalen, den jungen Menschen schamlos affizierenden Konzepten des Denkes, erstickt und ließen mich jetzt so abgeklärt, mein Wesen so fad und geistlos erscheinen.
Ein letztes Mal träume ich von heiliger Kindheit. Ich erinnere mich der sinnlichen Augenblicke, dem absoluten Versunkensein in die Gegenwart des fantasievollen Spiels.
Damals im Sommer roch mein kleines Firmament nach den blühenden Feldern, abseits der Siedlungen und Straßen, abseits des zeitlosen Ernst jeglicher metaphysischen oder gesellschaftlichen Wahrheit. Zarte, spitze, nach Regen durstende Gräser. Man piekst sich daran, wenn man sich flach auf den Bauch legt und den kleinen Tierchen beim Krabbeln zu sieht. Die Sonne brennt heiß und an die weiße, zart errötete Kinderhaut schmiegt sich aufdringlich die matte Sommerschwüle. Sie liegt zwischen den Grashälmen diese dumpfe Hitze und intensiviert den unschuldigen Geruch der florierenden Wiese.
Als Kind bejahte ich das Leben, weil ich mein Spiel war. Ich wurde nicht gezwungen zu sein, sondern war selbst gewollt einen Sinn für meine Existenz zu schaffen, ohne mich dabei auf die Autorität einer Moral beziehen zu müssen oder gar zu können. Mein junges Leben war gottlos, weil ich Schöpfer meiner Identität war. Ich erschuf den Augenblick, genoss ihn und wuchs durch ihn, bis dass seine Flüchtigkeit mich überfiel.
Noch einmal Nihilist sein, denke ich. Dann schließe ich meine grauen Augen, beende mein Atmen und zerstöre die Panik, den Sinn des Lebens. Gedanklich öffnet sich mir ein leerer Raum, indem nun endlich Neues möglich ist.
Eine innere Ignoranz, vielmehr ein forciertes Verdrängen der eigenen Ängste und besonders ein völlig stressresistentes, durch konstante positive Ausstrahlung übermaltes Wesen war hier vonnöten. Erst durch ein Vergessen der persönlichen, immer gegengewärtigen Furcht vor Leben und einer unsicheren Wahrheit, durch die partielle Degradierung meiner Person, meiner ungeteilten Empfindungen, wurde das Gefängnis, mein grauer Kasten, mein Telefon-Computer-Terminal, zu meiner Bühne. Die Bühne, als Ort des Schauspiels, als Lebensraum eines gefühlsstarren, zur Emotionsmonotonie verbannten, modernen Telefonisten.
Ich fing an zu schreiben, eben weil ich die eigene Lust der bezahlten Selbstzerstörung, angetrieben durch meinen Beruf, die Destruktion meiner individuellen Persönlichkeit, als meinen künstlerischen Antrieb zu akzeptieren lernte. Auf leeren, weißen Seiten manifestierte sich das Moloch Angst, die Furcht vor der mir im Beruf zugetragenen, gesellschaftlichen Ignoranz, welche meine Charaktergestalt vergessen zu machen drohte. Ich schrieb nachts. Schrieb von dem Angstschweiß des unsicheren Versichernden, den niemand wahrnahm, welcher aber, sobald ich das Büro verlassen hatte, aus jeder Pore meines müden Körpers troff. Von den Tränen, die mein schmerzverzerrtes Gesicht, wegen meines hektischen Schreianfalls, meiner auf teure, materielle Gegenstände hastig, pathologisch einschlagenden Fäuste, meiner unkontrolliert zuckenden Extremitäten und meines zitternden Unterkiefers, großzügig befeuchteten und dann tropfend verließen. Als in der Zelle des Callcenters und in meiner Reihenhauswohnung verweilendes, isoliertes, menschliches Experiment schrieb ich wütende Texte, umschrieb die Schimäre, mein Leben, ein Trugbild.
Jetzt bin ich alt. Ein Telefon besitze ich nicht. Die Oberfächlichkeit meines Berufs hat mich müde, sogar recht sprachlos werden lassen. Ich rede selten, doch inhaltlich nicht weniger als damals. Wie die unscheinbare Pantomime einer vergangenen Persönlichkeit ahme ich wortlos die frisch jugendliche Gestik und Mimik, die Symbolik meiner einst grenzenlosen Vitalität nach. Geschrieben habe ich, um die beinahe verlorene Tiefgründigkeit meiner Existenz zu konservieren, vielleicht um mir ein wenig infantile Reinheit zu bewahren. Geschrieben habe ich, um den Kampf des durch den Kapitalismus versklavten Individuums auf dem Papier zu gewinnen, um meine Umwelt und meine daraus resultierende Verzweiflung auf meine Art und Weise zu interpretieren, um, durch diese schriftliche Interpretation, Herr über das Erlebte zu werden. Geschrieben habe ich - und habe es verloren, das unlautere Spiel.
Im Stupor verweilend, schaue ich durch blinde Fensterscheiben. In ihnen spiegelt sich mein erschreckendes, vom Alkohol gezeichnetes Portrait. Mein Gesicht liegt in Falten. Die veraltete Hautstruktur präsentiert mein Inneres ganz plötzlich am deutlichsten. Die ewigen Winter, die geistige Kälte meines Berufs, die subventionierte Routine haben die zarte Kinderhaut rau und schuppig erscheinen lassen. Nicht nur mein Gesicht, meinen gesamten Körper überspannt das trockene Schuppengebilde, wie eine Projektionsfläche für all die unverarbeiteten beziehungsweise unbeantworteten Eindrücke und Fragen meines Daseins, die ich nicht gekonnt war zu begreifen, oder die ich innerhalb meiner eklektizistischen, jedoch dilettantischen Lyrik nicht vermochte allgemein verständlich zu veranschaulichen. Sie verstecken sich unter der Maske, die sterblichen Überreste meiner vergangenen, primitiv jugendlichen Metapherwelt, welche sich letztendlich gedrängt sah, leise in den Abgründen der endlos zehrenden, vagabundierenden Suche nach finanziellem Glück und schützendem Wohlstand zu versinken. Die tosenden Feuer meiner Phantasie und die darin einst glühenden Bildermassen waren in unfreiwillig übernommenen, gesellschaftlichen und besonders beruflichen Perspektiven und rationalen, den jungen Menschen schamlos affizierenden Konzepten des Denkes, erstickt und ließen mich jetzt so abgeklärt, mein Wesen so fad und geistlos erscheinen.
Ein letztes Mal träume ich von heiliger Kindheit. Ich erinnere mich der sinnlichen Augenblicke, dem absoluten Versunkensein in die Gegenwart des fantasievollen Spiels.
Damals im Sommer roch mein kleines Firmament nach den blühenden Feldern, abseits der Siedlungen und Straßen, abseits des zeitlosen Ernst jeglicher metaphysischen oder gesellschaftlichen Wahrheit. Zarte, spitze, nach Regen durstende Gräser. Man piekst sich daran, wenn man sich flach auf den Bauch legt und den kleinen Tierchen beim Krabbeln zu sieht. Die Sonne brennt heiß und an die weiße, zart errötete Kinderhaut schmiegt sich aufdringlich die matte Sommerschwüle. Sie liegt zwischen den Grashälmen diese dumpfe Hitze und intensiviert den unschuldigen Geruch der florierenden Wiese.
Als Kind bejahte ich das Leben, weil ich mein Spiel war. Ich wurde nicht gezwungen zu sein, sondern war selbst gewollt einen Sinn für meine Existenz zu schaffen, ohne mich dabei auf die Autorität einer Moral beziehen zu müssen oder gar zu können. Mein junges Leben war gottlos, weil ich Schöpfer meiner Identität war. Ich erschuf den Augenblick, genoss ihn und wuchs durch ihn, bis dass seine Flüchtigkeit mich überfiel.
Noch einmal Nihilist sein, denke ich. Dann schließe ich meine grauen Augen, beende mein Atmen und zerstöre die Panik, den Sinn des Lebens. Gedanklich öffnet sich mir ein leerer Raum, indem nun endlich Neues möglich ist.
Adesignforlife - 5. Apr, 21:23